Schon von Weitem sticht die auffällige Form dieses Berges ins Auge, die einem Tafelberg ähnelt, und es war gewissermaßen Liebe auf den ersten Blick. „Der muss es sein!“, dachten wir uns spontan, als wir das erste Mal ein Foto des Hårteigen sahen. Leider – oder zum Glück – steht dieser markante Gipfel aber nicht irgendwo am Wegesrand, sondern mindestens zwei Tagesmärsche weit in der westlichen Hardangervidda. Und so machten wir uns auf den Weg …
Gestern Abend, auf dem letzten Bergrücken oberhalb von Vivelid hat er sich zum ersten Mal in der Ferne gezeigt, der Hårteigen, unser Ziel, ein grauer Klotz aus Granit, der wie eine Krone über der westlichen Hardangervidda thront. Seitdem sind wir fast vier Stunden gegangen und nun sehen wir ihn von einer Anhöhe aus wieder – immer noch unendlich weit entfernt hinter unzähligen Hügelketten. Seltsamerweise hat dieser Anblick nichts Beunruhigendes an sich – irgendwann werden wir dort sein. Eine entspannte Gelassenheit hat sich breit gemacht. Allein das Unterwegssein zählt, wichtig ist immer nur der nächste Schritt.
Nachdem wir gestern die schlimmsten Sumpfstellen hinter uns gebracht hatten, ist das Gehen heute sehr angenehm. Über weite Strecken führt unser Weg über die blanken, griffigen Felsen des eiszeitlichen Gletscherschliffs, auf denen man so herrlich entspannt geht. Am Nachmittag ziehen jedoch Wolken auf und
ein frischer Wind bringt neuen Regen. Wir haben beide keine Lust auf eine weitere Nacht im nassen Zelt
und so kommt uns die Selbstbedienungshütte Hadlaskard gerade recht. Wir stellen unsere Stöcke in die Ecke des Vorraums, wo sie mit lautem Gepolter wieder umfallen. Die Tür öffnet sich und eine zierliche, ältere Dame begrüßt uns mit strahlendem Gesicht: „Hjertelig velkommen til Hadlaskard“, herzlich willkommen auf Hadlaskard. Wenn das kein Empfang ist!
Die Hütte ist blitzsauber aber einfach, kein Strom, kein Wasser und doch bietet sie alles, was man bei schlechtem Wetter in dieser abgelegenen Gegend schätzt. In der Stube, die tatsächlich eine „Gute Stube“ ist, knistert es behaglich im eisernen Ofen, über dem wir unsere nassen Sachen trocknen können. In der Küche fehlt es an nichts und in den Regalen hinter der Theke am Eingang stehen fein säuberlich sortiert wie im Kaufladen aus den Kindertagen Konserven und Tüten aller Art. Hier kann man sich nach Herzenslust bedienen. Wir schreiben unseren „Einkauf“ auf ein kleines Tütchen mit den aufgedruckten Preisen, das wir am nächsten Tag mit den passenden Geld in einen Tresor werfen– auf Treu und Glauben, ganz selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich, wie jeder am nächsten Tag Besen und Wischmopp zur Hand nimmt, um die Hütte in dem Zustand zu verlassen, in dem er sie vorgefunden hat.
Bei Kerzenschein machen wir es uns auf der Eckcouch gemütlich, während sich draußen ganz langsam die Dämmerung über die Vidda senkt. Viel zu schade, um schon schlafen zu gehen, andererseits ist die Aussicht auf ein richtiges Bett aber auch sehr verlockend.
Am nächsten Tag ist das Wetter dann auf unserer Seite. Ein nahezu wolkenloser Himmel spannt sich über dieser schier endlosen Weite, die Luft ist warm und über den niederen Sträuchern schwirren Myriaden von Mücken in der Sonne. Von Hadlaskard bis an den Gipfelaufbau des Hårteigen sind es immer noch knapp drei Gehstunden – der Kerl will erobert werden! Doch im Gegensatz zu dem gestrigen Auf und Ab geht es heute ohne nennenswerte Abstiege fast immer nur bergauf.
Schon am Fuß der Gipfelfelsen hat man eine fantastische Sicht über den westlichen Teil der Hardangervidda. Kein Wunder, denn mit seinen 1.696 m ist der Hårteigen der höchste Punkt weit und breit. Dunkel und abweisend wirken die senkrechten grauen Granitwände, unbesteigbar. Nur an einer Stelle ist diese Mauer zusammengebrochen und hat auf der Ostseite einen kleinen Durchschlupf geöffnet. Steil führt eine Rinne mit riesigem Blockwerk nach oben, wo sie vor einer gut 10 m hohen Felsstufe endet. Ob wir dort überhaupt hinauf kommen?
Zu unserer Freude entpuppt sich der Ausstieg aus der Rinne bei näherer Betrachtung dann als relativ problemlos. Die Felsen sind gut gestuft und außerdem seilversichert, sofern man dieses kreative Durcheinander patschnasser Seile als Sicherung bezeichnen will. Es folgen ein paar luftige Meter über ein schmales Band, das mit einem stabilen Drahtseil versichert ist, dann stehen wir oben auf dem riesigen Gipfelplateau. Ein Leichtflugzeug umkreist auf Augenhöhe den Gipfel. Wir winken hinüber und der Pilot grüßt mit einem Wackeln seiner Maschine zurück.
Die Aussicht über die Hardangervidda ist gigantisch. Im Süden und Osten erstreckt sich bis weit in die Telemark hinein hügeliges Hochland mit tiefblauen Seen, auf denen kleine Eisberge schwimmen. In den nordseitigen Mulden liegen noch die Schneereste des vergangenen Winters, die spätestens im nächsten Monat wieder neuen Zuwachs bekommen werden. Im Norden leuchtet die flache Gletscherkuppe des Hardangerjøkullen, der mit seinen 1.863 m der höchste Berg in der Hardangervidda ist, und im Westen bilden die vergletscherten Rücken des Folgefonna Nationalparks den Abschluss in der Runde. Kaum zu glauben, dass sich zwischen uns und ihnen der tiefe Sørfjord eingegraben hat. Es hat den Anschein, als könnte man direkt hinüber wandern, sofern man nur genügend Zeit mitbringt.
Mehr als eine Stunde sitzen wir hier oben, schauen und staunen, dann müssen wir uns wohl oder übel an den Abstieg machen, so schwer es uns auch fällt.
Auf Hadlaskard werden wir wieder mit einem „Hjertelig velkommen“ begrüßt. Bei so viel Herzlichkeit fällt uns die Wahl „Zelt oder Hütte“ nicht schwer. Von der Hüttenwartin bekommen wir ein Dachzimmer neben dem unbelegten Matrazenlager zugewiesen. Wir hätten tanzen können heute Nacht, wenn wir nur gewollt hätten. Statt dessen strecken wir unsere Beine erst unter dem Tisch, dann auf der Bank aus. Später kuscheln wir uns in unsere Schlafsäcke, das Giebelfenster ist weit geöffnet und mit dem Rauschen des Baches im Ohr schlafen wir zufrieden ein.
Zartblau und wolkenlos ist der Himmel auch am nächsten Morgen, als wir durch den weiten Talkessel um Hadlaskard wieder zurück wandern. Er ist im Frühjahr Kalbgebiet und Kinderstube der Rentiere und nur dem massiven Protest aus der Bevölkerung ist es zu verdanken, dass hier kein Stausee entstand. Was für ein Glück!
Über all die Hügel und Bergrücken über die wir vor zwei Tagen gekommen sind, geht es nun wieder zurück. Wie angenehm statt der Kapuze heute den Sonnenhut auf dem Kopf zu tragen! Nahe Hedlo rasten wir lange am Bach, wir dösen auf warmen Felsplatten vor uns hin, hängen die Füße ins kalte Wasser und lassen die Seele baumeln.
Umso schwerer fällt uns dann in der Nachmittagssonne der Aufstieg über den nächsten Bergrücken. Zwischen den Büschen flimmert die warme Luft in der Nachmittagssonne. Auch nach der Sommersiedlung Vivelid noch einmal ein Anstieg. Er liegt zwar im Schatten, doch er zieht sich wie Gummi. Irgendwann ist auch er geschafft und es geht nur noch bergab bis zum Auto.
Unsere kleine Expedition ist zu Ende: einen Tag zu einem Berg, einen Tag hinauf und hinunter und einen Tag wieder zurück. Erleichtert stellen wir die Rucksäcke neben dem Auto ab, müde aber rundum zufrieden und auch ein kleines bißchen traurig, dass es so schnell keine Fortsetzung gibt.
Ausgangspunkt der beschriebenen Tour ist Øvre Eidfjord am Ende des Eidfjords. Ab hier auf schmaler Schotterstraße über Hjølmo, Åsdalen (oberster Parkplatz auf ca. 500 m Höhe).
Auf dem Weg zum Hårteigen gibt es folgende Übernachtungsmöglichkeiten: → Vivelid Fjellstue (ca. 1,5 h ab Parkplatz, 880 m), → Hedlo Turisthytte (privat, 945 m), → Hadlaskard (DNT Selbstbedienungshütte, 995 m), sodass sich die Mitnahme eines Zeltes erübrigt.
Der Weg ist einfach, gut markiert, aber streckenweise sehr nass und sumpfig. Die Gipfelbesteigung setzt Trittsicherheit und Schwindelfreiheit voraus, bei verschneitem Fels ist unbedingt davon abzuraten.
Der Weg kann ab Hårteigen auch nach Süden zur → DNT Hütte Litlos fortgesetzt werden, bzw. über die → Torehytten nach Lofthus.
Die Tour ist, zumindest ohne Gipfelbesteigung, praktisch zu jeder Jahreszeit möglich, wobei im Frühsommer die wasserreiche Hardangervidda noch etwas nasser ist als später. Das Gebiet um Hadlaskard ist im Mai wegen der Rentierkalbung gesperrt, die Hütte geschlossen. Wir waren Ende August dort, ab September muss wieder mit Schneefall gerechnet werden, wobei es durchaus auch im Hochsommer schneien kann.